Antworten auf grundlegende Fragen zur ehrenamtlichen Wegbegleitung finden Sie hier. Unser Sammelband "Lückenschluss in der Kinder- und Jugendhilfe. Auftrag, Inhalte, Herausforderungen" gibt ausführliche Antworten auf eine Vielzahl von Fragen.
Was hat es mit der Illustration von Sylvia Vananderoye auf sich?
Das Bild zeigt einen jungen fremdplatzierten Menschen in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe (Wohngruppe). Wir nennen das Kind Jona. Jona hatte es bislang nicht leicht in seinem/ihrem kurzen Leben. Jona hat bereits früh traumatisierende Erfahrungen in seiner/ihrer Herkunftsfamilie gemacht, was der Grund dafür ist, dass Jona seit Längerem in einer Wohngruppe lebt. Das Lieblingskuscheltier, Charlie, symbolisiert vergangene Verletzungen. Charlie war der/die einzige treue Begleiter:in seitdem Jona vom Jugendamt in Obhut genommen wurde. Die Wunden von Charlie sind sichtbar, das stört Jona aber nicht. Charlie bleibt immer und zuverlässig an Jonas Seite. Jona hat schon viele Erzieher:innen kommen und gehen sehen. Jona fragt sich häufig, wie es weitergehen soll. Voller Sorge schaut Jona in die Zukunft. Was passiert, wenn er/sie die Wohngruppe mit 18. Jahren als Careleaver verlassen muss? Wer ist dann eigentlich noch für ihn/sie da? Wie soll Jona alleine zurecht kommen? Manchmal wünscht sich Jona Hilfe von einem erwachsenen Menschen, der nicht fortgeht wie alle anderen, einem Menschen, dem er/sie vertrauen kann und der/die bei ihm bleibt. und Jona hilft, manchen schwierigen Weg zu meistern. Die Wünsche von Jona werden eines Tages erfüllt. Jona lernt seinen/ihren Wegbegleiter:in Dominique kennen. Dominique holt Jona seit dem Kennenlernen, als sich beide direkt gut verstanden haben, alle zwei Wochen aus der Einrichtung ab und unternimmt mit ihm/ihr schöne Dinge. Dominique hilft Jona so manche Hürde zu überbrücken. Jona schafft es so, einen vermeintlich holprigen Weg, der früher unüberwindbar schien, zu meistern und greift nach der helfenden Hand von Dominique. Charlie ist noch leicht skeptisch, aber das wird sich bestimmt bald ändern. So lange kennen sich Jona und Dominique ja schließlich noch nicht, aber beide schauen zuversichtlich in die Zukunft.
Wer oder was sind ehrenamtliche Wegbegleiter:innen?
Ehrenamtliche Wegbegleiter:innen sind erwachsene Bezugspersonen außerhalb der stationären Einrichtungen der Jugendhilfe. Sie begleiten und unterstützen Kinder und Jugendliche auf ihrem Lebensweg. Das langfristige Ziel ist es, ein soziales Netzwerk aufzubauen, auf das die jungen Menschen nach Auszug aus der Wohngruppe und weit darüber hinaus als Careleaver zurückgreifen können. Als Careleaver werden junge Menschen beschrieben, welche die Wohngruppen meist um das 18. Lebensjahr herum verlassen und von da an auf eigenen Füßen stehen müssen. Mit dem Auszug gehen die haltgebenden und lieb gewonnen Strukturen in der Regel verloren. Die ehrenamtlichen Wegbegleiter:innen können die jungen Menschen dann auffangen, weiterhin als Ansprechpartner:innen oder Bezugspersonen wie ein starkes Rückgrat zur Verfügung stehen und in alltäglichen Dingen helfen. Wie es eben die Eltern eigentlich auch tun würden.
Für welche Kinder werden ehrenamtliche Wegbegleiter:innen gesucht?
Viele jungen Menschen haben ja vor der Unterbringung in einer Wohngruppe schon vielfache Erfahrungen mit Beziehungsabbrüchen gemacht und leider daher besonders unter Beziehungswechseln. Dessen ist man sich bewusst und setzt in den stationären Einrichtungen der Jugendhilfe gezielt auf Beziehungskontinuität und langfristige Mitarbeiter-Bindung. Auf personelle Fluktuation hat man aber nur in begrenztem Maße Einfluss. Und leider gibt es immer wieder Beziehungsabbrüche, bedingt durch personelle Veränderungen im Betreuer:innen-Team. Kinder und Jugendliche verlieren dann eine Vertrauensperson und müssen sich wieder auf neue Betreuer:inenn einstellen. Junge Menschen brauchen aber mindestens eine Person, die einfach immer da ist, an sie glaubt und sie nicht in Frage stellt, also „exklusiv, individuell, verlässlich und insbesondere dauerhaft“. Und dann ist es noch so, dass viele Kinder am Wochenende von Familien oder Freunden abgeholt werden, andere aber in der Wohngruppe zurückbleiben. Darunter leiden junge Menschen. Wegbegleiter kümmern sich genau um diese Kinder und Jugendlichen. Sie holen die jungen Menschen am Wochenende ab und unternehmen mit ihnen Dinge, die Spaß machen. Das hat einen ganz besonderen Wert. Die Wegbegleiter sind in einem sogenannten „eins zu eins-Setting“ nur für den einzelnen jungen Menschen da. Und genau das entspricht dem Wunsch von vielen jungen Menschen: Sie wollen sich verstanden fühlen und sie wollen, dass sich jemand individuell Zeit nimmt und nur für sie da ist. Wegbegleiter geben dauerhaft Halt und Orientierung.
Was hat es mit dem eins zu eins-Setting auf sich?
Was in den Hilfesystemen, strukturell bedingt, nicht gesichert geleistet werden kann, ist ein sogenanntes "Eins zu eins-Setting", also die Betreuung eines jungen Menschen durch eine Betreuungsperson, exklusiv, individuell und insbesondere dauerhaft. Gerade Kinder, die von ihren Eltern kein Urvertrauen, Geborgenheit oder ein Sicherheitsgefühl vermittelt bekommen haben, was Auswirkungen auf ihre Bindungs- und Beziehungsfähigkeit hat, profitieren von dem exklusiven Setting einer ehrenamtlichen Wegbegleitung. Aus der Resilienzforschung wissen wir, dass Kinder diese Beziehungsfähigkeit in einem gesicherten Umfeld, das Wegbegleiter:innen langfristig bieten, noch entwickeln können. Junge Menschen möchten, dass sie sich verstanden fühlen und sie möchten, dass sich jemand individuell Zeit für sie nimmt und nur für sie da ist. Eine frühzeitiges Angebot von ehrenamtlichen Wegbegleitungen könnte eine positive, stabilisierende und vor allem präventive Wirkung auf die psychosoziale Entwicklung haben.
Ersetzt die ehrenamtliche Wegbegleitung die erzieherischen Hilfen?
Für den Erfolg der ehrenamtlichen Wegbegleitung ist es wichtig, dass alle Beteiligten des Hilfesystems sich nicht als konkurrierend wahrnehmen, sondern mit gegenseitigem Vertrauen, Wertschätzung, Transparenz und einem gemeinsam getragenen Anforderungs- und Aufgabenprofil miteinander und kollegial zusammenarbeiten. Die ehrenamtliche Wegbegleitung ersetzt die erzieherischen Hilfen nicht, kann sie aber wirkungsvoll um eine individuelle und ganz persönliche Begleitung als ergänzendes ein zu eins-Setting bereichern. Das ehrenamtliche Engagement ist dabei zwar ein freiwilliges Engagement und bedeutet gleichzeitig eine Verpflichtung auf lange Zeit. Eine finanzielle Gegenleistung fällt bei ehrenamtlichem Engagement ja weg. Das heißt, es geht um Freiwilligkeit. Also Freizeit dafür zu investieren, anderen Menschen zu helfen und ihren Alltag zu verschönern und zu bereichern. Und es geht um gesunden Altruismus, also sich ganz selbstlos und ohne große Erwartungshaltung um junge Menschen zu kümmern. Reziproke Motive sind dabei kritisch zu bewerten. Die jungen Menschen dürfen nicht unter Druck gesetzt werden, Gefälligkeiten zu erwidern. Beispiel: Ich helfe dem jungen Menschen heute, dann hilft er mir vielleicht im Gegenzug im Alter, wenn auch ich alleine bin und Hilfe brauche.
Wie "wirkt" die ehrenamtliche Wegbegleitung auf junge Menschen?
Die frühzeitige Installation von ehrenamtlichen Wegbegleitungen könnte eine positive, stabilisierende und vor allem präventive Wirkung auf die psychosoziale Entwicklung insbesondere von den Kindern und Jugendlichen erzielen, die wegen ihrer besonderen Verhaltensauffälligkeiten (z.B. schwere Bindungsstörung mit Enthemmung, mangelnde Impulskontrolle, hochgradige Aggressivität) als sogenannte Systemsprenger:innen attribuiert werden. Das Problem mit dem Begriff der Systemsprenger:innen liegt in der Zuschreibung, dass diese Kinder und Jugendlichen so viele Probleme machen, dass sie „das System“, also die Organisationen ambulanter, teilstationärer und stationärer Kinder- und Jugendhilfe überlasten und überfordern. Das hat vielfach den Effekt, dass sie von der einen in die nächste Einrichtung weitergereicht werden und auf diese Weise eine Heimbiografie entsteht, in der in vielen Fällen diese jungen Menschen innerhalb weniger Jahre zehn bis fünfzehn Heime kennenlernen. Diese Kinder- und Jugendhilfereisenden leben jeweils für eine gewisse Zeit, meist nur wenige Wochen, in einer Einrichtung und zeigen sich mit ihrem auffälligen Verhalten als „nicht haltbar“, fliegen raus und wechseln in die nächste Einrichtung. In der Regel wird dann eine Einrichtung gesucht, „mit einem engeren Rahmen“, worunter i.d.R. Einrichtungen mit stärkeren Tagesstrukturierungen und strengeren Regelwerken verstanden werden. Jedes Mal bedeutet so ein Wechsel Beziehungsabbrüche, Scheiternserfahrung und Frustration. Die Selbstwirksamkeitserfahrung des betroffenen jungen Menschen besteht dann darin, sich als sehr schwierig, besonders auffällig und deshalb wiederholt abgelehnt zu erleben, weil es mit der Hilfemaßnahme, mit (z.B.) der Verbesserung des Sozialverhaltens und mit der Schulkarriere ja schon wieder nicht geklappt hat. Es folgt die nächste Einrichtung, man muss neue Leute kennenlernen, die gleichen Erwartungen an Regelkonformität hören, Verschärfungen der Regelwerke erleben und die immer gleichen Zuschreibungen fühlen (#schwierigerjungermensch): Ein Teufelskreis. Die Idee der ehrenamtlichen Wegbegleitung besteht darin, hier eine Lücke zu schließen und einen Beitrag zur Durchbrechung dieses circulus vitiosus zu leisten. Um es auf den Punkt zu bringen: Wegbegleiter:innen können durch ihre Gewährleistung von Kontinuität, Stabilität und Verlässlichkeit vielen Kindern und Jugendlichen Sicherheit, Halt und Orientierung vermitteln, damit einer Verschärfung der individuellen Problematik vorbeugen und so vielen jungen Menschen eine Karriere als Systemsprenger:in ersparen. Ehrenamtliche WegbegleiterInnen gewinnen nicht nur durch den zahlenmäßigen Anstieg von stationären Unterbringungen der Kinder- und Jugendhilfe an Bedeutung, auch potentiell vermeidbare Folgen im Zusammenhang mit psychischen Problemen, delinquentem Verhalten oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen sind nicht zu unterschätzen.
Wer kommt als Wegbegleiter:in in Frage?
Als Wegbegleiter kommen nur Menschen in Frage, welche die richtigen Absichten mitbringen. Das wird genau überprüft und im Laufe der Wegbegleitung engmaschig kontrolliert. Ansonsten kommen generell erwachsene Menschen in Frage, die Interesse haben, mit jungen Menschen umzugehen und auch nicht davor zurückschrecken, dass der Umgang mit belasteten und z.B. traumatisierten jungen Menschen mit einigen Herausforderungen verbunden ist. Potentielle Wegbegleiter:innen werden also sehr sorgfältig ausgewählt und über Qualifizierungsmaßnahmen auf ihre wichtige Aufgabe vorbereitet. Manchmal springen während der Ausbildung noch Interessierte ab, manchmal stellt sich aber auch heraus, dass sie für eine Wegbegleitung dann doch nicht geeignet sind. In jedem Falle reicht eine Grundqualifizierung nicht aus. Wegbegleiter:innen sollen sich darauf einlassen, immer wieder (Aufbau)-Schulungen zu besuchen. Außerdem sollen Wegbegleiter:innen an regelmäßigen Supervisions-Terminen teilnehmen. Da bekommen sie selbst Unterstützung für schwierige Erlebnisse mit ihren betreuten jungen Menschen, können aber auch anderen Wegbegleiter:innen wertvolle Tipps und Hinweise geben. Ein gutes Netzwerk zum gegenseitigen Austausch ist von Nöten. Man lernt also eine ganze Menge im Umgang mit jungen Menschen, und man lernt sich selbst auch viel besser kennen. Also die eigenen Grenzen erkennen und die der Anderen wahrnehmen. Insofern eignen sich weltoffene und Weiterbildungs-interessierte Erwachsene, die mit viel Empathie – wir nennen das gern „Herzkompetenz“ – mit jungen Menschen umgehen wollen. Sie dürfen sich selbst allerdings nie als Familienersatz sehen, denn das sind sie nicht. Die jungen Menschen haben ja ihre Familien, auch wenn sie dort Belastendes erlebt haben und vielleicht immer noch erleben. Wegbegleiter bieten eine Versorgungsbeziehung an. Es geht also auch nie um in Pflegenahme oder gar Adoption.
Wie wird man ein/e Wegbegleiter:in?
Ohne Qualifizierung geht es nicht. Zunächst einmal findet eine Grundqualifizierung statt und dann sind weitere Aufbauschulungen fester Bestandteil des Qualifizierungskonzepts. Die Grundqualifizierung sollte persönlich, also face-to-face stattfinden, aber die Aufbauschulungen sind als digitale Qualifizierungsmaßnahmen geplant. Weiterhin sollen sich die Wegbegleiter:innen verpflichten, an regelmäßigen Supervisionsterminen teilzunehmen. In der Interaktion mit Kindern und Jugendlichen mit Bindungsproblematiken und Verarbeitung von Traumata benötigt es einfach einen sehr intensiven gegenseitigen Austausch. Auch ist ein regelmäßiger Austausch mit der Einrichtung, in welcher der junge Mensch lebt, notwendig. Man muss schon bereit sein, neben den regelmäßigen Treffen auch weitere Zeit neben dem Hauptjob einzuplanen. Damit es hier keine Interessenskonflikte gibt, findet die Grundqualifizierung meist an einem oder mehreren Wochenenden oder gut verteilt an einigen Abenden statt. Auch die Aufbauqualifizierungen und Supervisionen (meist jeweils ca. ein bis zwei Stunden) finden so statt, dass jeder die Chance hat, daran teilzunehmen. Aber auch bedarfsabhängig ist ggf. weitere Zeit für bilaterale Austauschtermine (Intervisionen) mit den stationären Einrichtungen einzuplanen. Insgesamt handelt es sich aber aus unserer Sicht um einen zumutbaren und organisatorisch machbaren Aufwand. Wichtig ist, dass Wegbegleiter:innen sich darauf verbindlich einlassen können und wollen.
Haben Wegbegleiter:innen einen Erziehungsauftrag?
Wichtig ist, dass für die Erziehung und die eigentliche Versorgung die Betreuenden in den stationären Einrichtungen verantwortlich sind. Sie kümmern sich um alles. Die Wegbegleiter:innen haben keinen Erziehungsauftrag. Sie begleiten die jungen Menschen auf ihrem Weg. Besonders wertvoll ist es immer dann, wenn diese Wegbegleitung auch nach dem Auszug aus der Wohngruppe fortgesetzt wird. Dann kann es schon einmal sein – wie Eltern es ebenso tun würden –, dass die Wegbegleitung auch bei dem Ausfüllen von Anträgen z.B. zur BAföG-Unterstützung behilflich ist. Tatsächlich gehts zunächst einmal nur um gemeinsam verbrachte Zeit. Das hat den höchsten Wert und kann bei jungen Menschen eine Menge bewirken. Es geht aber auch darum, die erwachsene Bezugsperson nicht mit anderen Kindern teilen zu müssen.
Welche Bedeutung spielen Schutzkonzepte?
Sämtliche Einrichtungen und Organisationen, die sich um das Wohl junger Menschen bemühen, benötigen nachhaltige Schutzkonzepte zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch und vor Gewalt. Auch im Kontext der Wegbegleitung muss ein ausgeklügeltes Schutzkonzept greifen. Details hierzu finden Sie in einem Artikel von Gregor Hensen in unserem Sammelband.